четверг, 16 ноября 2023 г.

Metamorphosen von Raum und Zeit : eine Geschichte der Wahrnehmung, Martin Burkhardt; S.79-80, 81

 Nicht allein, daß zum ersten Mal seit der Antike die Freiplastik in die Kunst zurückkehrt, was vor allem hervortritt, ist die Sprache des neuzeitlichen Körpers, ist Ähnlichkeit, ist das Einzelne als Möglichkeitsform: die Mög-lichkeit, aus der Haut fahren zu können und darin, im Außersich, zum Betrachter seiner selbst werden zu können. Damit heißt Ahnlichkeit aber auch Verlust des fraglos, gedankenlos hingenommenen Ansichs, das einfach dort stehenbleibt, wohin es gesetzt ist. Das Double ist ein Entwurf, ein Vor-Läufer, ein Ich-Projekt, und vielleicht ist es dies um so nachdrücklicher, als es sich noch nicht in der Denkfigur des Alter Ego, sondern in Form eines fernen Vorbildes, in der Imago eines Apostels oder eines Heiligen zu erkennen gibt. Womit nun auch die sich herausformende Sprachwerdung des Körpers4, das Oszillieren zwischen dem Ideal und dem Selbst, nach dem gleichen, zweideutigen Muster sich vollzieht, wie es auch dem Kathedralenbau eignet. Dennoch - und vielleicht liegt hierin der Grund für den langen, schmerzhaften, ja zuweilen katastrophischen Prozeß, mit dem die Geburt des neuzeitlichen Antlitzes sich vollzieht - steht die Figur doch immer noch unter ihrem Baldachin, unter dem Dach jener Kirche, die dem Druck dessen, was auf ihr lastet, nicht mehr gewachsen ist.

Es ist ein Risiko, in den Spiegel zu schauen. Denn das Spiegelbild schaut zurück, einmal mehr oder weniger fremd. Vielleicht ist eines der verstörendsten Spiegelbilder, dem sich das ausgehende 13. Jahrhundert gegenübersieht, die Gestalt des Wucherers. Ein gesellschaftlicher Paria, ein lebend Verdammter, ist er der legitime Nachfahr jener anderen Schreckgestalt, die im Hochmittelalter sich der allerübelsten Reputation erfreute: des Geizigen nämlich (dessen Höllenqualen nicht von ungefähr auf jedem Türsturz so minuziös geschildert sind). Nun ist dies eine Metamorphose, die an sich schon bemerkenswert genug ist, weist sie doch darauf hin, daß das gesellschaftliche Tabu von einer Figur des Entzugs zur Figur der Hypertrophie überspringt. Galt der Geiz im Hochmittelalter weniger der Geldsucht wegen als Sünde als vor allem deshalb, weil sich der Geizige dem Gemeinschaftsleben entzog, weil sein Geiz somit das Symptom seiner Asozialität war", so ist, was den Wucherer stigmatisiert, nicht die Habsucht als solche, ja nicht einmal, daß er Geldreichtümer ansammelt - nein, das was ihn zum Unberührbaren macht, ist allein die Art, wie er das tut: nämlich daß er Geld für sich arbeiten läßt.


Was in der Pariagestalt des Wucherers sich verkör-pert, ist mehr als bloß ein individuelles Vergehen, es ist das Problem des Geldes, jenes verbotenen, alles verflüssigenden Mediums, das die Festen der Gesellschaft unterspile; und in diesem Sinn ist der Wucherer lediglich Symprom, derjenige, in dem sich das antagonistische Prinzip in hochster Konzentration zu erkennen gibt. Und so ist es nicht zufällig, daß die Vorwürfe, die an ihn gerichtet werden, stets auf die Natur (oder die Widernatur) des Geldes abzielen - womit die Gestalt des Wucherers den Gedankengrund, ja geradezu das Kampfgebiet fir eine Auseinandersetzung abgibt, die weit über sein personales Sein hinausreicht.


Die wohl tiefste gedankliche Hemmschwelle dem Geld gegenüber scheint darin zu liegen, daß mit ihm ein Mehrwert des Symbolischen in die Welt gerät, daß mit dem hypertrophen Zeichenzeugs ein künstliches Wachstum in Gang gesetzt wird, das anderen Gesetzen folgt als denen der Natur.?° Denn die Hypertrophie der Zeichen geht einher mit der Desubstantialisierung der Welt, führt doch das wucherische Wachstum der Zeichen dazu, daß das Equilibrium von Ding und Zeichen aus den Fugen gerät. Das Verhältnis von Ding und Zeichen wird problematisch - und mit ihm die Gleichung, die Selbstverständlichkeit des Tauschs. Fraglos ist dies keine Kleinigkeit, geschweige denn ein bloß semiotisches Problem, artikuliert sich hier wohl die fundamentalste Störung des Denkens.

Im Geld sammelt sich der horror vacui der Zeit, das Empfinden, daß hier ein fremdartiges, genetisches Prinzip herrscht, das, ganz ähnlich wie die Alchemie (die ja ein korrespondierendes Denken ist), die Natur der Dinge vergewaltigt. [....] Auch wenn die Annahme des gefräßigen Geldes etwas sonderbar erscheinen mag, so artikuliert sich in dieser Vorstellung doch keineswegs bloß magisches Denken, sondern etwas durchaus Vernünftiges: die Scheu vor der dingverzehrenden, desubstantialisierenden Potenz des Geldes.7 So ist es ja eine Realität - wie eine jegliche Inflation lehrt -, daß das wucherische, wuchernde Zeichen die Substanz der Dinge selbst aufzehrt, daß mithin der Übergang vom Ding zum Zeichen kein bloßer Benennungsvorgang ist, sondern eine Operation, die mit einer Entwertung, ja mit dem Verschwinden der Substanz einhergehen kann. 

Комментариев нет:

Отправить комментарий