Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses

Die romantische Erinnerung ist ambivalent: Sie ist zugleich die Waffe, die die Wunde der Zeit schlägt, und das Mittel, das diese Wunde behandelt. Mit Hilfe der Recollection, der nachträglich supplementierenden Erinnerung, läßt sich diese Wunde lindern, aber nicht heilen. Die Kraft der Heilung kommt einer anderen Form der Erinnerung zu, die von den Spuren der Zeit ebenso gereinigt ist wie von den subjektiven und aktiven Zügen der Imagination. Diese Form der Erinnerung, die ich Anamnesis nennen möchte, ist das Andere der Erinnerung. Es ist die passive, rezeptive, mystische, man könnte auch sagen: die «weibliche» Gegenseite zur «männlichen» Kraft der Imagination.